Logo: Münnerstädter Kreis
13.11.2024
20.08.11

Kirche Wohin?

Kategorie:
Na Kirche im 21. Jahrhundert, Na Röm.-kath. Kirche, Na Nachrichten

von Johannes Röser

Droht eine neue Kirchenspaltung? Die gibt es längst. Denn ungefähr neunzig Prozent aller Getauften nehmen am christlichen Leben, an der Feier von Leben, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi kaum mehr oder gar nicht mehr teil. Das betrifft keineswegs nur das "schlimme, säkularisierte'' Deutschland, sondern ebenso den Vorhof des Papstes, Rom, die Elendsviertel und Metropolen im mit Basisgemeinden bestückten Brasilien oder die angeblich so jugendlichen Gemeinden in Afrika, Asien und anderswo. Gern wird auf das Wachstum der nominellen Christen - und nominellen Katholiken - verwiesen. Über das geistliche und vor allem geistige, ja intellektuelle Wachstum sagt dies freilich wenig bis gar nichts. Ähnliches gilt für die vom Vatikan und von etlichen Bischöfen besonders hofierten sogenannten neuen geistlichen Bewegungen. Was die Dynamik zur Weiterentwicklung des christlichen Glaubens, der Gottesvorstellungen wie der Gottesverehrung im Horizont einer modernen entmythologisierten und wissenschaftlich aufgeklärten Welterfahrung angeht, werden sie maßlos überschätzt.


Der erhoffte Aufbruch von einst
Es geht aber genau darum: um die Entfaltung der religiösen Potenziale des Christlichen für die Zukunft. Es geht um nichts Geringeres als um Entwicklung im Wesenskern des Christusverständnisses wie Christusbekenntnisses aus dem Geist der Zeit und nicht - wie polemisch gegen Reformbestrebungen eingewendet wird - aus den: Zeitgeist. Der Glaubenserneuerung soll die Kirchenerneuerung dienen. Deshalb erleben wir zurzeit wieder manche Strukturdebatte. Nicht weil irgendwelche Reformgrüppchen sich wichtig machen oder ihre Lieblingsideen verbreiten wollen, sondern wegen der realen Bedrängnis, dass der christliche Glaube in breiten Schichten der Bevölkerung dahinsiecht, abstirbt. Die gegenwärtige Welle kirchlicher Restauration, eines Neo-Antimodernismus und Neo-Traditionalismus verstärkt dies eher. Und mit der Minorität jener, die in mailloser Polemik für sich allein .Papsttreue'' beanspruchen und damit andere als papstuntreu denunzieren möchten, gewinnt man, um es einmal salopp zu sagen, "keinen Blumentopf".
Schwierig ist allerdings, dass die seinerzeit von vielen ersehnten Aufbrüche des Zweiten Vatikanischen Konzils auch nicht den religiösen Durchbruch bewirken konnten. So herrschen momentan Enttäuschung und Verbitterung auf vielen Seiten. Diese gemeinsame Enttäuschung sollte als erster Bußakt eines wahrhaftigen Dialogs von allen ehrlich ausgesprochen werden, um Verständnis füreinander und Vertrauen zueinander zu wecken.
Denn weder Progressive noch Konservative, weder Liberale noch Traditionalisten haben bisher das "Ei des Kolumbus'' gefunden, um in der alle Christen erschütternden Gottes-, Glaubens- und Kirchenkrise wirklich durchgehend überzeugende Perspektiven zu eröffnen. Das gilt ebenso
für Evangelische wie Orthodoxe. Denn der Prozess religiöser Distanzierung und Diffundierung im Zuge der Modernisierung und Säkularisierung ist weltweit keineswegs beendet, wie manche Soziologen, beeindruckt vom Wachstum pfingstlerischer und evangelikaler Strömungen besonders in der Dritten Welt, neuerdings nahelegen. Die aufstrebenden Schwellenländer holen vielmehr beschleunigt nach, was zuletzt als bloßer "Sonderfall" des aufklärerischen Europa behauptet worden war.
Wie und wohin laufen die kirchlichen Trends? Was wollen wir, was nicht? Die Debatte darüber ist entbrannt. In Deutschland wurde soeben behauptet, es gebe hier starke nationalkirchliche Bestrebungen, eine "Los-von-Rom«- Bewegung", sogar bis in die Kirchenführung hinein. Als Beleg werden unter anderem Äußerungen zugunsten eines freiwilligen Zölibats unter Weltpriestern erwähnt. Oder Vorschläge zur Einführung eines Diakonatsamts der Frau, zu Demokratisierung, Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle in der Kirche, Überlegungen zu einer zeitgemäßen Sexualmoral und anderes mehr.


Weg von Rom? Hin nach Rom!
Manche Unterstellung wirkt geradezu kurios: etwa wenn die Bitte, die Zölibatsbestimmung für den lateinischen Teil der Weltkirche dem anzugleichen, was in vielen mit dem Papst verbundenen Kirchen östlicher altehrwürdiger Tradition üblich ist, als Beleg der Trennung von Rom aufgeführt wird. Die aktuelle Debatte orientiert sich ja gerade an Rom, drängt nach Rom, zum Papst selber hin: dass doch endlich an der Spitze ergebnisoffen beraten, auf neue Entscheidungen hingearbeitet werden möge in Dingen, die alle in der Weltkirche mehr oder weniger intensiv betreffen, Lateinamerika genauso wie Westeuropa. Man kann doch auf Dauer nicht tatenlos zusehen, wie sich gewaltige Mehrheiten der getauften Katholiken vom Glaubensleben verabschieden. Wenn es also eine Reformbewegung gibt, dann als flehentliche Hinwendung nach Rom!
Außerdem sind es heutzutage überwiegend "konservative" Leute der breiten Mitte des Gottesvolks. die über die bleierne Stagnation erheblich beunruhigt sind. Ja mehr noch: über den offenkundigen restaurativen Kurswechsel gegenüber vielem, was im Zweiten Vatikanischen Konzil angedacht und angeregt worden war. Die einladende, einfühlende dialogische Sprache vieler Konzilsdokumente geht den neueren lehramtlichen Texten mit vielen apodiktisch schneidenden Formulierungen völlig ab. Sprachlich und denkerisch tun sich zum Beispiel zwischen dem Ökumenismusdekret und der für das katholisch-evangelische Verhältnis verhängnisvollen Erklärung "Dominus Jesus" von 2000 geradezu Abgründe auf. Persönlichkeiten moderater Haltung, Priester wie Laien, werden plötzlich als "Altliberale", "Altkluge", "Achtundsechziger" und "Aussterbende" beleidigt und lächerlich gemacht. Geistliche, die zum Teil jahrzehntelang um die religiöse Erneuerung ihrer Gemeinden - oft leider mit mäßiger Resonanz - gerungen und gekämpft haben, werden auf einmal von arroganten "Feuilleton-Katholiken" und jüngeren Leuten, die mancher früher schlichtweg als "Schnösel" bezeichnet hätte, an den Pranger von Häresie und Irrlehre gestellt.
Was seit einiger Zeit in großer Fülle an Mails und Briefen eingeht, voller tiefster Unruhe und Sorge über aktuelle lehramtliche Trends und Entscheidungen, ist erschütternd. Besonders aufwühlend sind Rückmeldungen sehr vieler Priester, die sich in ihrer seelischen Not sogar von ihren eigenen Bischöfen nicht verstanden, im Stich gelassen, ja verprellt fühlen, wo sie Solidarität und ein klares, mutiges Wort aufgrund der bischöflichen apostolischen Vollmacht auch einmal gegenüber den Kurienbehörden erwarteten. Nicht wenige fragen: Wissen die Kirchenführer eigentlich, was Realität ist? Wollen sie es überhaupt wissen? Und welche Schlüsse ziehen sie daraus? Manchmal heißt es wie bei weltlichen Gremien und PR-Beratern, es handele sich um ein Kommunikationsproblem. Das aber ist es nicht. Es handelt sich vielmehr um ein Erkenntnis-, ein Wahrhaftigkeits- und ein Entscheidungsproblem ganz am Wesensgrund des christlichen Glaubens. Dabei leiden anscheinend, wie man vernehmen kann, durchaus auch Bischöfe darunter, dass sie selber in Rom denunziert werden - und dass die Denunzianten fast durchweg vom traditionellen Spektrum mit ihrer "Information" dort anscheinend immer wieder auf genug Leute treffen, die ihren Einflüsterungen wohlwollend begegnen, statt sie auch einmal barsch und energisch an den Ortsbischof zurückzuverweisen.


Der "evangelikale Katholizismus"
Bei den allermeisten zutiefst Reformwilligen handelt es sich um Katholiken, die ihr sakramentales Leben ernst nehmen und pflegen, die regelmäßig sonntags zur Kirche gehen und die als verantwortungsvolle Eltern ihren Kindern ein glaubwürdiges Christsein und eine glaubwürdige Kirche, geistig auf der Höhe der Zeit, vermitteln wollen. Bezeichnend ist, dass öffentliche Reformvorstöße neuerer Zeit unter anderem von umsichtigen, frommen Politikern unternommen wurden. Das Theologenmemorandum wurde von angesehenen Gelehrten unterzeichnet, auch wenn man berechtigt fragen kann, ob die thesenartigen plakativen Formulierungen und die Präsentation eines Sammelsuriums sehr verschiedenartiger Forderungen glücklich waren. Inzwischen aber scheint die konzilsbewegte Mehrheit nicht länger schweigen und das Feld den wortlaut aufdringlichen restaurativen Minderheiten überlassen zu wollen, die für sich die Meinungshoheit über das beanspruchen, was katholische Rechtgläubigkeit sei. Allerdings ist nicht ausgemacht, wohin diese Reise geht.
John L. Allen, Vatikankorrespondent für die amerikanische Zeitung "National Catholic Reporter", stellt in seinem jüngsten Buch "Das neue Gesicht der Kirche" über die Zukunft des Katholizismus (Gütersloh 2011) fest, dass die restaurativen Orientierungen momentan weltweit gefördert werden und in den Vordergrund drängen. Der Journalist mit langer römischer und weltkirchlicher Erfahrung beobachtet: "Die katholischen Liturgiefeiern werden zunehmend traditioneller, wobei römisch klingende Redewendungen und ältere Praktiken bevorzugt werden, etwa diejenige, sich die Kommunion auf die Zunge statt in die Hand legen zu lassen. Katholische Universitäten, Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen geraten unter starken Druck, beweisen zu müssen, dass sie nicht ,verweltlicht' sind - und dieser Druck kommt nicht immer, ja nicht einmal vor allem aus Rom... Priester und Ordensgemeinschaften werden kirchenamtlichen Überprüfungen unterzogen, weil sie angeblich von ihren traditionellen Lebensformen abgewichen sind. Allein im Jahr 2009 gab es diesbezüglich für die Ordensfrauen in den USA zwei verschiedene vom Vatikan angeordnete Untersuchungskommissionen. Die Entscheidung von Papst Benedikt XVI., die lateinische Messe wieder zu beleben, und der Umstand, dass er ganz grundsätzlich betont, man müsse das Zweite Vatikanische Konzil in Kontinuität mit früheren Strömungen der katholischen Tradition interpretieren, zielen auf eine eher herkömmliche Form der katholischen Identität." Dem entspricht das Bemühen, den traditionalistischen Abtrünnigen großzügigst entgegenzukommen, etwa durch die bedingungslose Aufhebung der Exkommunikation der Lefebvre- Bischöfe usw. "Dieser Schub in Richtung der Wiederbelebung traditioneller Kennzeichen des katholischen Denkens, Redens und praktischen Verhaltens - den man im heutigen Katholizismus sowohl von oben als auch von unten her spüren kann - ist Teil dessen, was ... hier als ,evangelikaler Katholizismus' beschrieben werden soll."
Diesen zweifellos missverständlichen Begriff hat Allen gewählt, weil zur Charakterisierung dieser Richtung die bisher übliche Benennung "konservativ" nicht mehr zutrifft. Viele einstmals als konservativ eingeordnete Katholiken wollen mittlerweile im Bewusstsein der Tradition am energischsten den reformerischen Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils weiterentwickeln. Für diese Haltung verwendet Allen die ebenfalls missverständliche Bezeichnung "liberal". Allerdings gibt es zurzeit keine allgemein anerkannten Etikettierungen der gewandelten Verhältnisse. Allen drückt es kurz und knapp so aus: "Die Liberalen des Mainstreams wollen den Gegensatz zur Moderne abbauen, die Evangelikalen wollen die Moderne bekehren und die Pfingstler wollen sie begeistern."


Die Reformer ziehen sich zurück
Der evangelikale Katholizismus ist für den amerikanischen Journalisten in gewisser Weise ein "Stiefkind" der Säkularisierung, um deren wirklichen oder vermeintlichen Übeln "die Stirn zu bieten". Das geht einher mit der Sehnsucht einer mittleren und jüngeren Generation nach Halt und Orientierung in einer unübersichtlichen pluralistischen Welt, in der überkommene Bindungen und Vorstellungen brüchig geworden sind. In entsprechenden kirchlichen Kreisen herrscht eine tiefe Abneigung gegen die Vielfalt des Religiösen innerhalb wie außerhalb der je eigenen Glaubensgemeinschaft, des je eigenen Milieus. Man sichert sich mit lehramtlichen Weisungen in der Art neuer Katechismen rein defensiv-apologetisch gegen andere und anderes ab, versucht, die "wahre" alte Lehre mit dem starken Arm bischöflicher oder vatikanischer Autorität durchzusetzen, und scheut sich nicht, gegen die "Neuerungssüchtigen", "Zeitgeistigen" anklagend vorzugehen. Identität wird durch Polemik behauptet, auch gegen "modernistische" katholische Theologen und Journalisten, die angeblich .Protestantisierung" betreiben.
Die Reformbewegungen sieht Allen inzwischen durch die Wortführer des Traditionalismus weitgehend eingeschüchtert, entmachtet oder schlichtweg ermüdet. Sie haben - so seine Einschätzung - auch kaum noch oberste bischöfliche Fürsprecher im Kardinalsrang mit Gewicht so wie einst einen Franz König, Basil Hume, Carlo Maria Martini, Joseph Bernardin. Die "Liberalen" seien am schwersten enttäuscht, weil ihre Hoffnungen und Initiativen über Jahrzehnte lehramtlich blockiert wurden und weil nichts darauf hindeutet, dass ihnen der Papst auch nur in irgendeiner kleinen Weise entgegenkomme, wie er es allerdings mehrfach sehr verständnisvoll gegenüber den Traditionalisten tat. Daher ziehen sich die Reformerischen mittlerweile zurück, tauchen ab. Die traditionell Orientierten gewinnen allein schon dadurch an Übergewicht, dass die anderen aufgeben. Allen vermutet: "Aus diesem Grund werden im Lauf des 21. Jahrhunderts die organisierten katholischen Reformbewegungen an Mitgliedern und Einfluss verlieren. Die meisten Katholiken werden nicht ihre Zeit und ihre Mittel für Anliegen verwenden wollen, die kaum Erfolgsaussichten haben." Die Prognose des amerikanischen Journalisten ist ernüchternd: "So wird sich für die katholischen Reformer also das 21. Jahrhundert als Zeit erweisen, in der sie innerlich in die Katakomben gehen müssen, äußerlich jedoch als schick gelten."


Wo Energien nicht vergeudet sind
Das heißt allerdings nicht zwingend, dass die reformerische Geisteskraft erlischt. Es bedeutet nur - auch dafür gibt es Anzeichen -, dass sie sich in eine andere Richtung wendet, weg von der Kirche innen nach draußen. Viele Reformkatholiken sind inzwischen in der Bewegung für eine gerechtere Globalisierung tätig, gegen Armut, Krieg, Todesstrafe, Umweltvergiftung, Klimazerstörung und so weiter. Ihre Energien möchten diese recht wertkonservativ Glaubenden lieber dort einsetzen, wo ihre kreativen Ideen und Anstrengungen nicht vergeudet werden wie in der Kirche. In Deutschland ist ein Beleg für diese Tendenz, dass sich etliche der einst innerkirchlich engagierten jüngeren Leute mittlerweile in der Grünen-Bewegung beheimatet fühlen, wo sie ihre Innovationsleistungen besser gewürdigt sehen.
Allen nennt als Beleg für seine Hypothese die weltweit tätige, inzwischen in vielen "Ablegern" präsente römische Basisgemeinschaft Sant'Egidio. Sie wurde nach dem Konzil "während des liberalisierenden Aufbruchs von progressiven Katholiken gegründet ... , die die Kirche nicht verlassen wollten. Statt sich auf Kämpfe innerhalb des Katholizismus einzulassen, entschied man sich in Sant'Egidio dafür, sich auf die Mission der Kirche ad extra zu konzentrieren: Man kümmerte sich um die Armen, wurde gegen die Todesstrafe aktiv, fand Strategien zur Friedensstiftung und Konfliktlösung und bemühte sich um den ökumenischen und interreligiösen Dialog. Im Unterschied zu anderen progressiven Bewegungen, die verfielen, gedieh Sant'Egidio. Im 21. Jahrhundert werden Bewegungen wie Sant'Egidio die Zukunft des liberalen katholischen Aktivismus sein", sagt der Journalist voraus. Auf diese Weise könnten die Reformkräfte andernorts überleben und später eventuell eine innerkirchliche Renaissance erfahren.
Allens Voraussage wirkt spekulativ. Sie ist aber nicht uninteressant: "Falls Liberale mit größerer Wahrscheinlichkeit in säkularen oder ökumenischen Kontexten arbeiten, mit den Denk- und Redeweisen der Modernität vertraut sind und es lernen, wie man die Hebel sozialer Macht außerhalb der katholischen Kirche betätigen kann, dürften sie wahrscheinlich in einer besseren Position dafür sein, Einfluss ausüben zu können. Der Auszug der Professionellen aus der Kirche könnte die Fähigkeit der katholischen Linken steigern, Koalitionen zu bilden und überzeugend mit denen zu diskutieren, die nicht von der katholischen Tradition geprägt wurden. So könnte paradoxerweise der evangelikale Katholizismus am Ende dem sozialen Kapital des katholischen Liberalismus eine starke Aufwertung erschweren."


Nicht "blind" glauben: "sehend"
Entscheidend freilich geht es darum, alles christliche Bemühen auf die Gottesfrage auszurichten, diese wieder für Menschen attraktiv zu machen. Der Fels des Atheismus ist heute nicht mehr so sehr das Problem, warum Gott so viel Leiden zulassen kann. Viel schlimmer ist für die meisten Menschen in einer wissenschaftlich erfahrbaren, durch das Experiment nachprüfbaren Welt die radikale Unsichtbarkeit Gottes - allen Offenbarungsbehauptungen zum Trotz. Über allem liegt die große Befürchtung, dieses "Mysterium" könne doch bloß Projektion sein. Modern Glaubende wie Nichtglaubende haben an der Welterfahrung schwer zu kauen, die schon im ersten Johannesbrief (im vierten Kapitel) sehr hart, aber realistisch formuliert ist: "Niemand hat Gott je gesehen ... " Es gibt kein Experiment, das ihn auch nur ein bisschen empirisch nahelegen könnte. Warum will Gott ein Gott für uns sein, ohne sich uns als Gott zu zeigen? Das ist die große, spannende Frage.
Christsein kann für Menschen des 21. Jahrhunderts, die sich in der Moderne erprobt und bewährt haben, aber nicht einfachhin nur "blind" und appellativ angeeignet und verwirklicht werden im Sinne von: "Du musst einfach nur glauben und vertrauen!" Was ist es, was "sehend" macht, was vielleicht doch auf die Spur eines Ahnens führt, fern alter magischer und mythologischer Glaubensweisen, die vom evangelikalen Katholizismus als Retro-Bewegung wieder eingeführt werden sollen, jedoch im Horizont einer aufgeklärten, allerdings weithin mysteriöser Seinserfahrung ihre Plausibilität mehr und mehr verlieren?
Es geht in der aktuellen Debatte über die Zukunft der Kirche gar nicht in erster Linie um die Rettung der Kirche. Es geht viel tiefer einzig und allein um Gott - und Mensch. Darum müssen wir beten. Darum müssen wir aber auch streiten, so wie auf allen guten Konzilien heftig gestritten und nicht harmlose Wohlfühlatmosphäre verbreitet wurde. Denkverweigerung und Denkverbote helfen nicht. Alles muss radikal, das heißt substanziell von der Wurzel her, auf den Tisch. Wahrhaftigkeit!


Aus: CiG 27/2011, 295 f.