12.07.16
"Die Konsensehe ist die große Revolution"
Kategorie:
Nachrichten, Na Kirche im 21. Jahrhundert, Na Priesterbild, Na Röm.-kath. Kirche, Na Nachrichten
von Arnold Angenendt im Gespräch mit Andreas Main
Wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Ehe heute
Arnold Angenendt war fast 20 Jahre lang Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Mentalitäts- und sozialgeschichtliche Ansätze in die deutsche Kirchengeschichtsschreibung integriert zu haben, gilt als sein großes Verdienst. Und er ist meinungsfreudig. Angenendt fordert im Deutschlandfunk, die katholische Kirche müsse ihre Lehren zu Ehe und Sexualität an die Realität anpassen. Dabei könne hilfreich sein, sich vor Augen zu führen, wie sie das Bild der Ehe immer wieder gewandelt hat - auch in den Kirchen. Und das gelte auch für die Ehelosigkeit von Priestern. Angenendt fordert "dringendst", dass auch verheiratete Männer, die sogenannten "Viri Probati", zu Priestern geweiht werden sollten. Und er schließt im Gespräch mit dem Deutschlandfunk die Priesterweihe für Frauen nicht aus.
Andreas Main: Der Münsteraner Theologe und Kirchenhistoriker Arnold Angenendt ist über 80 Jahre alt. Er geht nach wie vor Tag für Tag, auf jeden Fall so oft wie möglich an die Uni, studiert und liest und schreibt. Er ist bis heute produktiv. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Ehe, Liebe, Sexualität im Christentum - von den Anfängen bis heute". Auf rund 300 Seiten durchschreitet er das Liebesleben von uns Menschen von der Antike über das Hochmittelalter und das Jahrhundert der Prüderie - Kapitel 11 - bis hin zu Kapitel 14 - der sexuellen Revolution. Dieses Buch spiegelt Angenendts kirchenhistorischen Ansatz wider, der ihn berühmt gemacht hat. "Eine Meisterleistung historischer Anthropologie", hat ein Rezensent geschrieben. Dieses Gespräch zeichnen wir in Münster auf. Guten Tag und schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Professor Angenendt.
Arnold Angenendt: Ja, gerne.
Main: Herr Professor Angenendt, was war für Sie der Auslöser, dieses Buch schreiben zu müssen?
Angenendt: Also, an diesem Buch ist mir etwas aufgegangen, das mir vorher nicht so bewusst war, nämlich dass jahrhunderttausende lang die Frau sich unter den Schutz des Mannes begeben musste. Sie ist die physisch schwächere; sie ist auf Schutz angewiesen. Das hat verhindert, dass die Frauen überhaupt eine selbstständige Rolle spielen konnten. Hinzu kommt ein anderes. Die Kindbettsterblichkeit der Frauen, der gebärenden Frauen war hoch, die Kindersterblichkeit war ebenfalls hoch. Frauen wurde deswegen ganz früh verheiratet, sobald sie geschlechtsreif wurden. Ein Beispiel dafür ist Dürers Mutter. Die war mit 15 verheiratet, hat 18 Kinder geboren - und davon haben drei die Mutter überlebt. Also sie hat genau das Schema erfüllt, was jahrhunderttausende lang - das muss man sich vorstellen - für Frauen maßgeblich war: Vier Kinder verstarben, das fünfte überlebte. Erst die moderne Medizin hat die Kindbettsterblichkeit beseitigt, und damit eine ganz neue Situation für die Frauen geschaffen.
Main: Also als Theologe, als Kirchenhistoriker schauen Sie in Ihrem Ansatz zunächst einmal auch auf demographische, medizinische Entwicklungen und erst im zweiten Schritt schauen Sie sich die Gedankengebäude der Theologen an und bringen das zusammen?
Angenendt: Genauso würde ich mich verstehen wollen.
Main: Eines zieht sich durch Ihr gesamtes Buch: die These, dass das, was wir heute unter romantischer Liebe verstehen, unter partnerschaftlicher Liebe, dass das historisch betrachtet ein Spätprodukt ist. Woran machen Sie das fest?
"Die Erfindung der romantischen Liebe führt auch zu ihrem Scheitern"
Angenendt: Um 1800 entsteht die romantische Liebe. Jean Jacques Rousseau hat den ersten Ansatz dazu. Er beschreibt Liebe unter den beiden Geschlechtern als zartfühlend, aber er unterscheidet weiterhin Mann und Frau. Die romantische Ehe ist: ein Blick! Getroffen für immer! Die Liebe auf den ersten Blick! Und: das Bestimmt-Sein! Das Wissen: wir beide für immer! Aber das führt auch zum großen Scheitern. Der Soziologe Beck hat mal gesagt, diese Art von Liebe verspricht den Himmel auf Erden, aber der Himmel auf Erden kann von uns nicht gemacht werden. Das ist gleichzeitig der Grund für das Scheitern vieler Ehen heute. Und deswegen auch die Anfrage an die katholische Kirche: Gibt es da nicht eine Möglichkeit, dass eine zweite Heirat möglich wäre?!
Main: Dafür würden Sie definitiv plädieren?
Angenendt: Ich muss mich nur im eigenen Familienkreis umschauen, dann muss ich sagen: Solche Fälle gibt es, und ich habe auch zugeraten, neu zu heiraten.
Main: Wir sollten unsere Vorstellungen von Liebe, Ehe, Sexualität nicht zurück projizieren auf die Vergangenheit. Das scheint mir ein wenig eine Kernthese dieses Buches zu sein. Wenn wir das doch tun, was ist die Folge?
Angenendt: Wenn wir es doch tun, verurteilen wir alle anderen früheren Kulturen, die es anders gehalten haben und anders halten mussten.
Main: Sie schreiben auch mit Blick auf die jüngste Vergangenheit, die Pille bewirkt die zentrale Revolution. Was vorher undenkbar gehalten wurde - physisch folgenloser Geschlechtsverkehr - das ist seitdem möglich, scheinbar möglich. Rückblickend wächst dann auch die Empörung über Restriktionen durch christliche, beziehungsweise katholische Sexualmoral. Die Empörung ist aus Ihrer Sicht offenbar ungerecht. Warum?
Der medizinische Fortschritt verändert das Leben der Frau
Angenendt: Sie ist ungerecht, weil diese Prüderie zunächst einmal der Frau zustattenkam. Denn solange eine Frau nicht verheiratet war, lief sie Gefahr alleine gelassen zu werden. Und in der Geschlechtsbegegnung ist die Frau die absolut Benachteiligte. Sie muss sich eingestehen: Die meisten Kinder, die ich gebäre, sterben schon im Kindesalter, jedenfalls vor dem Erwachsenwerden. Wie also Frauen unter dem Trauma der Geburt gelitten haben manchmal, wie das unter Schreien vollzogen worden ist und wie der Geburtsvorgang tagelang andauern konnte, da kann man nur sagen: Die Frauen sind in der Geburt, in der Sexualität von Natur aus benachteiligt. Und erst die moderne Medizin hat diese Situation verändert. Als Theologe muss ich es so drastisch sagen: Nicht die Gnade Gottes, sondern die moderne Medizin hat eine neue Situation für die Frauen geschaffen. Und seitdem es die Pille gibt und der medizinische Fortschritt insgesamt die Kindersterblichkeit und Kindbettsterblichkeit heruntergesetzt haben, müssen ja auch gar nicht mehr so viele Kinder geboren werden.
Main: Damit sind Sie aber nochmal konträr zur gängigen kirchlichen Lehrmeinung.
Angenendt: Die kirchliche Lehrmeinung, die interessiert einen an historischen Fakten Interessierten zunächst einmal weniger. Ich denke, es ist durch die Pille für die Frau eine völlig neue Situation entstanden. Du brauchst nicht mehr achtzehn Kinder zu gebären, wenn drei überleben müssen. Und diese Situation ist komplett neu und schafft den Frauen überhaupt eine Chance, richtige partnerschaftliche Ehepartner zu werden, und verschafft der Frau auch die Möglichkeit, eine eigene Rolle zu spielen.
"Die Idee der Konsensehe verändert das Leben total"
Main: Sie hören die Sendung "Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft" im Gespräch mit dem Münsteraner Kirchenhistoriker Arnold Angenendt. Schauen wir mal etwas detaillierter auf das Mittelalter. Die Liebe siegt, sagen wir heute. In höfischen Kreisen vergangener Jahrhunderte konnte die Liebe nur selten siegen, dort galt die Frau als Mittel dynastischer Machtpolitik. Mit welchen Folgen?
Angenendt: Mit erheblichen Folgen. Also, ich bringe das Beispiel der Merowinger und der Karolinger. Man erinnert sich vielleicht aus dem Geschichtsunterricht. Ein Merowinger-König war mit 15 verheiratet, die Frau war 13, 14 Jahr alt. Das heißt: Kinder zeugten Kinder, Kinder gebaren Kinder. Kinder führten sogar auch Krieg. Diese jungen Könige - die führen Krieg. Es ist von den Merowinger-Königen nach 615 nur einer älter als 40 Jahre geworden. Die Karolinger lebten, was damals die durchschnittliche Lebenserwartung war, 30 Jahre als Herrscher. Das heißt, die konnten erzogen werden. Bei denen war eine ganz andere Möglichkeit für die Frauen dann schon gegeben, dass sie ältere Partnerinnen wählten und dass sie sozusagen ein richtiges, also uns möglich erscheinendes Eheverhältnis führen konnten.
Die große Revolution ist im Christentum die Konsensehe. Mann und Frau müssen dem Eheabschluss zustimmen. Also, diese Erfindung der Konsensehe ist philosophisch, aus der antiken Philosophie. Also, Aristoteles kann sagen: In der Liebe muss man den Menschen lieben, nicht den schnellen Sex. Du musst die Person lieben. Aber weil sehr früh geheiratet wurde, sagt Aristoteles dennoch: Der Mann bleibt das Haupt der Frau. Er heiratet eine 15jährige. Der Mann war in der Regel zehn Jahre älter, denn er muss berufsfähig sein und politikfähig. Also musste er seine junge Frau erziehen. Aber er geht davon aus - der Konsens: Du musst die Frau lieben! Und das verlangt die Zustimmung der jungen Frau.
Main: Und diese aristotelische Konsensidee war verloren gegangen - und wurde im hohen Mittelalter wieder belebt?
Angenendt: Nein, das verläuft anders.
Main: Wie?
Angenendt: Das Christentum übernimmt sofort die Konsensehe - und zwar von Anfang an. Aber nach dem Zusammenbruch der westlichen Zivilisation in der sogenannten Völkerwanderung kommt ein ganz neues Ehemodell auf - nämlich, die junge Frau wird verheiratet. Und erst im 12. Jahrhundert regeneriert sich Europa dadurch, dass die Bevölkerung anwächst, dass Universitäten wieder entstehen. Und in diesem Moment kommt die Idee der Konsensehe von neuem zur Wirkung. Und diese Idee hat die Ehe total verändert. Zunächst blieb natürlich der Druck, früh zu heiraten. Aber das Christentum hat dann versucht - das ist dann oft in anti-sexueller Sprache geschehen, das Heiratsalter hochzudrücken, damit die Frau mehr als Partnerin verstanden wird als denn nur als Geschlechtsobjekt. Also tausende von Eheprozessen sind im 15. Jahrhundert geführt worden, weil die Männer den Frauen, weil das ohne Zeugen geschah, die Ehe versprochen haben, sich aber nicht daran hielten. Und diese Konsensehe - die ist die große, große Revolution, weil sie die Partnerschaftlichkeit der Ehe herbeiführt.
Main: Das heißt, sozusagen: Unser Frauen-, unser Familienbild, was wir heute im 21. Jahrhundert haben, ist grundgelegt im christlich geprägten Hochmittelalter?
Angenendt: Ja, so kann man sagen. Jetzt muss man bei der Konsensehe dazu sagen: Die Reformation übernimmt diese Konsensehe, aber verlangt, damit der Mann nicht ausbüchsen kann, den Abschluss der Ehe vor Zeugen. Das ist Luthers Ansatz. Das Trienter Konzil folgt dem. Aber jetzt entsteht ein neues Problem. Indem der medizinische Fortschritt die Situation verändert hat, entsteht jetzt das Problem des vorehelichen Geschlechtsverkehrs. Im 18. Jahrhundert ist erreicht, dass die Frau 24 ist und der Mann 26 - das ist das durchschnittliche Heiratsalter. Aber beide sind mit 15 geschlechtsreif. Wie die Zeit zwischen Geschlechtsreife und menschlicher Reife jetzt überbrücken? Das wird das große Problem und daraus entsteht das Jahrhundert der Prüderie: Du kannst eine Frau nicht schwängern, ohne sie geheiratet zu haben!
Die Verdammung der Lust - ein Fehler der Kirche
Main: Sie sind ja weit davon entfernt, nur den positiven Beitrag des Christentums zur Geschichte der Ehe hervorzuheben. Sie sprechen durchaus auch an, dass Theologen und Kirchenmänner den Menschen als sexuellem Wesen diverse Lasten aufgebürdet haben. Was ist da aus Ihrer Sicht historisch betrachtet besonders fragwürdig?
Angenendt: Also, fragwürdig ist die Verdammung der Lust. Da gibt es im Christentum einen erheblichen Zug. Das hängt mit Augustinus zusammen. Augustinus hat eine wirklich neuartige Idee in die Welt gebracht - nämlich er sagt: Im Paradies waren Mann und Frau gleichberechtigt, und beide hatten Anteil an der sexuellen Freude. Aber das Paradies ist so schnell zu Ende gegangen, dass die Kinder von Adam und Eva außerhalb des Paradieses geboren sind. Und daraus macht Augustinus später die Idee - Psalm 50: In Sünden bist du geboren - das heißt, die Erbsünde, die Schädigung wird durch den Geschlechtsverkehr übertragen. Und das musste natürlich die Geschlechtslust für viele Jahrhunderte verteufeln. Aber im hohen Mittelalter - zum Beispiel Abaelard, der kann dann sagen: Geschlechtslust! Hast du nicht Lust beim Essen guter Speisen?! Hast du nicht Lust beim Trinken eines guten Weines?! Hast du nicht Lust in dir, wenn du eine schöne Frau siehst?! Also kann Geschlechtslust nichts Verkehrtes sein, sie ist Gabe der Schöpfung! Und von da an reaktiviert sich die Zustimmung zur Geschlechtslust. Und zum Beispiel so ein Poet wie Gottfried von Straßburg ist der erste, bei dem man so etwas wie romantische Liebe feststellen wird. Beide gleichberechtigt in der Liebe! Und für immer und total unscheidbar!
Main: Wenn ich an Vorlesungen und Seminare bei Ihnen in den 1980er Jahren denke und wenn ich mir die Lektüre Ihres Buches vor Augen führe: Sie sind durch und durch Optimist, sind sicher, dass der Mensch aus der Geschichte lernen kann. Und kirchlich gewendet: Theologie und kirchliches Lehramt müssen und können sich auch verändern. An welchen Punkten müsste sich - um noch mal darauf zurückzukommen - die katholische Sexuallehre verändern - aus der Erkenntnis dieser Geschichte heraus?
Angenendt: Ja, ich sage jetzt etwas ganz Unorthodoxes. Warum reaktiveren wir nach Erfindung der Pille und angesichts der hohen Scheidungszahlen - dank romantischer Ehe - warum reaktivieren wir nicht die Verlobungszeit? Alle jungen Leute - so sehr heute die romantische Ehe das Ideal ist, von 90 Prozent der jungen Leute zugestimmt - warum reaktivieren wir nicht die alte Verlobungszeit und sagen: Lebt mal erst zusammen und probiert aus, ob ihr zusammenpasst!? Und ich habe mir von Seelsorgern sagen lassen, dass solche Leute, wenn sie nach 17 Jahren heiraten, um ihre Frau einen Tanz machen und sie von oben bis unten küssen.
"Wer in der Ehe scheitert, darf nicht im Stich gelassen werden!"
Main: Weitere Punkte, wo sie Reformbedarf sehen in katholischer Sexuallehre?
Angenendt: Also, das Problem der Geschiedenen und Wiederverheirateten muss eine Lösung finden. Jesus verbietet die Scheidung - und zwar gleichberechtigt für Mann und Frau. Das kam der Frau zugute. Also: Nach allgemeinem Recht konnte eine Frau entlassen werden, weil sie das Essen hatte anbrennen lassen oder weil sie keine gute Haushaltsführung machte. Das konnte als Grund für die Scheidung angegeben werden. Insofern kommt dieses Scheidungsverbot der Frau zugute. Aber - was geschieht, wenn jetzt eine solche Ehe scheitert? Und sie scheitern heute zu 30 oder 40 Prozent. Da muss eine Lösung gefunden werden. Ich habe selber mal aus der Merowinger-Zeit eine christliche Scheidungsurkunde ans Licht gezogen: "Unsere Ehe ist gescheitert, wir trennen uns - mit der Möglichkeit auch neu zu heiraten, oder ins Kloster einzutreten."
Main: Es gab ja die Debatte auf der jüngsten Synode um Wiederverheiratete Geschiedene. Die Weltkirche hat zwei Wochen lang versucht, sich synodal über dieses Phänomen zu verständigen. Jetzt ist der Papst dran, das umzusetzen in eine eigene Position. Er hat das Heft in der Hand. Was erhoffen Sie sich von der päpstlichen Stellungnahme zu diesen Fragen?
Angenendt: Also, ich denke, nach der historischen Entwicklung, die wir hinter uns haben, können wir von der romantischen Ehe nicht mehr runter. Wir müssen die Schwierigkeiten, die diese romantische Ehe andererseits mit sich bringt, irgendwie zu bewältigen versuchen. Ich denke da ein einen berühmten Journalisten von der "Zeit", der von sich gesagt hat: Beim dritten Mal habe es so geklappt, dass es jetzt eine überaus glückliche Ehe ist. Wir müssen irgendwie damit fertig werden. Wir können die Leute, die einmal in der Ehe gescheitert sind, nicht im Stich lassen. Das ist meine Aufforderung. Ich bin nicht Pastoraltheologe, um da nähere Anweisungen geben zu können, aber so ähnlich denke ich mir das.
Main: Woher schöpfen Sie Ihren Optimismus, dass Theologie und kirchliches Lehramt aus der Geschichte lernen könnten - auch mit Blick auf Ehe, Liebe, Sexualität?
Angenendt: Ich schöpfe diese Hoffnung daraus, dass die Konsensehe eine christliche Einmaligkeit ist. Sie ist nicht im Christentum erfunden worden, aber das Christentum hat sie durchgesetzt. Ich habe mal ein Jahr in einem Institut in Nordamerika gearbeitet. Da war eines Tages eine Japanerin meine Nachbarin. Da sagt sie, sie sei von Zuhause enterbt. Dann habe ich mich langsam vorgetastet: Ja, sie sei ein Jahr College-Girl in den USA gewesen und habe sich verliebt. Und als sie zurückgekommen sei nach Japan, hätten ihre Eltern schon den Bräutigam für sie ausgesucht. Da habe sie gesagt: Tschüss, auf nimmer Wiedersehen! Und daraufhin sei sie enterbt worden. Heute, obwohl in der japanischen Verfassung von 1946 festgeschrieben ist, dass die Ehe frei sei soll, heute werden noch mindestens ein Drittel in anständigen japanischen Ehen arrangiert verheiratet. In Indien sind heute die 15jährigen Mädchen zur Hälfte verheiratet. Die können gar nicht Konsensehe praktizieren, die werden verheiratet. Und die Folgen kann man sich vorstellen.
Main: Ehe, Liebe, Sexualität - alles ist wandelbar. Auch in der katholischen Kirche. Das wird in Ihrem Buch deutlich. Und das gilt dann auch für die Ehelosigkeit als Keuschheitsideal. Sprich den Zölibat. Der Zölibat für alle Priester hat sich letztlich im Hochmittelalter durchgesetzt. Heute wird er in den Kirchengemeinden selbst von den Treuesten der Treuen in Frage gestellt. Was kann ein Kirchenhistoriker zu dieser Debatte beitragen?
Angenendt: Da kann er viel beitragen.
Main: Und zwar?
Angenendt: Jesus hat die sogenannt kultische Reinheit überwunden. Kultische Reinheit bedeutet: Wenn du bestimmte Nahrungsmittel zu dir nimmst oder wenn du mit Sexualstoffen in Berührung kommst, dem männlichen Samen oder dem fraulichen Menstruationsblut, dann bist du unrein, du bist kultunfähig. Das hat Jesus an die Seite gesetzt. Jesus lässt sich von einer Edelnutte, wie ein Exeget mal gesagt hat, die Füße küssen. Die kultische Unreinheit kehrt zurück im hohen Mittelalter, ist eigentlich ein Rückgriff aufs Alte Testament und ist deswegen nicht christentumspflichtig. Ich bin heute dafür, eine neue Lösung zu finden.
Main: In welche Richtung denken Sie da?
Angenendt: Man muss jetzt vorsichtig sein. Mein Plädoyer ist folgendes: Wir haben mehr als genug ausgebildete Theologen, die sogenannten Viri Probati nennen wir sie. Das sind Leute, die in der Lebensführung erprobt sind und auch in der Ehe nicht gescheitert sind. Und die zu reaktivieren, das wäre dringendst. Wenn ich mir angucke, was in unserer Seelsorgesituation sich abspielt mit den zusammengestoppelten Messen und mit den vielen ausländischen Priester. Das ist bitte kein Verdikt gegen diese Priester - aber um unser Problem zu lösen, müssten wir sofort damit beginnen die Viri Probati zur Priesterweihe zuzulassen.
Main: Das würde bedeuten, Pastoralreferenten, die ein Theologiestudium haben, verheiratet sind...
Angenendt: Ja, oder Religionslehrer...
Main: Oder auch ehemalige Priester, die verheiratet sind. Also Priester, die verheiratet sind und nicht mehr im Amt sind.
Angenendt: Darüber müsste man dann auch mal nachdenken - ja.
Main: Das heißt aber nicht, dass Sie dem Zölibat nichts abgewinnen können. Ganz im Gegenteil. Er gehört womöglich in die Ordensgemeinschaften, die damit auch gestärkt würden, weil sie ein Alleinstellungsmerkmal dazu gewönnen?
Angenendt: Ja, die große Ausnahme ist im Christentum Paulus mit seiner Bevorzugung der Ehelosigkeit. Jesus hat ehelos gelebt, soweit wir wissen. Paulus hat ehelos gelebt. Und das ist eine große Chance für die Frauen geworden: Die ganze Kultur der früheren Hälfte des Mittelalters ist klösterlich - die Handschriften, die Kunstwerke, die Kunstbauten. Ich habe noch Quellen des späten Mittelalters gefunden, wo eine junge Frau sich dann sagt: Gehe doch lieber ins Kloster anstatt, dass du Dein Leben riskierst in der Geburt in der Ehe. Also das Kloster hat unendlich große kulturelle Auswirkungen gehabt.
Main: Sie gehen jetzt aber als 81-Jähriger, der Sie nichts mehr zu verlieren haben, nicht soweit, dass Sie die Priesterweihe für Frauen fordern? Oder doch?
Angenendt: Meine Theorie ist folgende: Ich bin mal ein Jahr in Kanada gewesen und bin jeden Sonntag in eine andere Denomination gegangen; und da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben, Frauen predigen gehört. Und da muss ich sagen: ein anderer Ton. Im Christentum sind Mann und Frau beide nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Das ist religionsgeschichtlich die große Ausnahme. Und wenn man die Diakonin Phoebe nimmt, die in der Einheitsübersetzung dann als Dienerin übersetzt ist - wenn aber ein Diakon erwähnt wird, ein männlicher, dann wird er Diakon genannt, das wird die Amtsbezeichnung. Nach meinem Dafürhalten ist das auf die Dauer nicht aufzuhalten, dass Frauen diese ihre ursprüngliche Gleichberechtigung wahrnehmen und auch den Eintritt ins Amt erfordern.
Main: Den Eintritt ins Diakoninnen-Amt, nicht ins Priesteramt?
Angenendt: Mindestens Diakoninnen-Amt. Ich würde niemals Priesteramt ausschließen.
Main: Arnold Angenendt, "Ehe, Liebe, Sexualität im Christentum - Von den Anfängen bis heute" - so heißt das Buch des Münsteraner Kirchenhistorikers. Es ist erschienen im Aschendorff Verlag, 325 Seiten kosten 20 Euro. Danke Ihnen ganz herzlich, Professor Angenendt.
Arnold Angenendt ist einer der wichtigsten deutschen Kirchenhistoriker. Er ist 1934 geboren am Niederrhein. Er ist Priester, lebt also zölibatär - und hat ein Buch geschrieben über "Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum". Ein heikles Thema - auch vor dem Hintergrund, dass Papst Franziskus noch entscheiden muss: Wie geht es weiter mit katholischer Sexualmoral?